druckkopf

Bruno Bär
Gerhard Falkner

Gerhard Falkner: Bruno

Immer wieder unternahm ich Anstrengungen, über mich nachzudenken, mich zu fragen, wer hier warum durch den Wald stürzt, obwohl er eigentlich in der Stadt zu Hause ist, und warum der nicht genügen soll, mit dem man sich im Allgemeinen ja inzwischen abgefunden hat, sondern ein anderer, dem man wahrscheinlich nur deshalb nicht das Wasser reichen kann, weil er zu weit entfernt ist, und dies auch noch zeitlich und nicht etwa räumlich, was natürlich viel leichter zu überwinden wäre ...
Aber abgesehen von einem Anreißen dieser Gedanken gelang es mir nicht, mir auch nur im Geringsten naher zu kommen.
Es gelang mir nicht, meine Person anders zu erfassen als in. ihren abgedroschensten Zuschreibungen
Kaum hatte ich mit einigen Selbstbezichtigungen mein Nachdenken über mich ein bisscben in Schwung gebracht, schon verlor ich innerhalb kürzester Zeit wieder das Interesse, und der geliebte Satz von Frank O'Hara ging mir durch den Kopf:
Das geringste Nachlassen der Aufmerksamkeit führt zum Tod.
Wie idiotisch, dachte ich, anzunehmen, der Tod würde eintreten, also plötzlich sein, wo er doch die meisten, manche sogar eine halbe Ewigkeit lang, in verblüffender Offenheit begleitet und an ihrer Seite einfach heranwächst wie ein Schatten, bis er schließlich größer ist als die, neben denen er einhergeht, und sie einfach der Sicht auf das Leben beraubt.
Dann wird dem Begleiteten schwarz vor Augen und er ist hinüber.
Ich hatte gerade einen steilen Anstieg hinter mir, als ich auf eine kleine Heide hinaustrat, die sich weich in die Bergwand schmiegte.
Auf der Lichtung stand Wacholder, das Gras war verbrannt, die Luft roch würzig.
Na los, Brauner, zeig dich doch endlich, rief ich lautlos. Meine Gedanken aber schrien es, und in meinem Schädel gab es ein so merkwürdiges Echo, als ob er völlig leer wäre und riesig wie der Rumpf eines Ozeanfrachters.
Tritt heraus, zottiger Bär! Zeig dich mir, verdammt noch mal, damit ich endlich den Beweis habe, dass wenigstens noch eine Bestie frei herumläuft außer
mir.
Was heißt hier Bestie, widersprach ich mir, denkst du jetzt auch schon in dieser Idiotensprache. Zum Wald hin gab es einen breiten Streifen wilder Erdbeeren.
Unter dem Dach ihrer Blätter glühten die Früchte. Die musst du doch riechen, dachte ich. Mensch, Bär, mach mal los jetzt!
Ich kann dich nicht suchen, ich muss dich finden, redete ich weiter zu mir in dieser stummen Sprache. Wollte ich dich suchen, so hieße dies, ein Gebiet von weit über hundert Quadratkilometern zu durchforsten, mit unzugänglichen Schluchten und steilen Wäldern und mit ziemlich wenig Aussicht auf Erfolg. Wenn ich dich allerdings einfach finde, "weil ich auf dich stoße, dann finde ich dich dort, wo ich sowieso gerade bin, beziehungsweise unser Zusammentreffen beruht gewissermaßen zu gleichen Teilen auf meinem Auf-dich-Zugehen und deinem Entgegenkommen. Wir träfen uns an jenem heiligen Ort, an dem der kleine Zufall die große Notwendigkeit auslöscht wie der Mond die Sonne während einer Sonnenfinsternis. Dann müssen wir sehen, was wir aus dieser Begegnung machen.
Ob wir voreinander fliehen oder aufeinander zustürzen. Auf jeden Fall werden wir miteinander reden. Wir werden schon eine Sprache finden, in der wir reden können.
Während ich dies dachte, durchrieselte mich ein Glücksgefühl und gleichzeitig fühlte ich mich vollkommen niedergeschlagen.
Die Seligmacher Serotonin und Melatonin waren auf meine dunklen Säfte gestoßen, mit dem Ergebnis, dass ich mich gleichzeitig himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt fühlte.
Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich diesen Ausdruck jemals in meinem Leben anwenden würde. Nun aber war er eingekehrt. In meinen Wortschatz. Genau in diesem Augenblick meines Lebens. Dieses Leben, das immer in Unordnung war, war an einem Punkt angelangt, an dem das Wörtchen Unordnung seine Zuständigkeit verloren hatte. Es für meine Lage anzuwenden wäre so, als würde man den Krieg eine Unordnung nennen. Ich aber war schon immer ein Spitzenreiter im Rennen um die aberwitzigsten Schicksalsschläge. Immer schon der Auserwählte für besonders blöde und blamable Widernisse.
Mit der Zeit hatte ich mir jedoch angewöhnt, diese Züchtigungen als eine mir von Gott auferlegte Vergnügungssteuer für mein ausladendes Leben zu betrachten.
Dadurch wurde es eine Zeit lang erträglicher. Kurz bevor ich in die Schweiz reiste, hatte das Schicksal einen neuen Anlauf genommen, mich aus der Bahn zu werfen.
Mehr als ein Dutzend Bücher hatte ich inzwischen geschrieben und veröffentlicht und mich damit in eine erbärmliche, ja fast aussichtslose Lage gebracht. Die meisten Freunde hatte ich verloren, weil die sich durch das Übermaß meiner Lebensführung persönlich gekränkt und auf ein minderes Maß herabgedrückt fühlten.
Schließlich war auch noch meine Frau nach über zwanzig Jahren endlich zu der Überzeugung gelangt, dass ich ein Ungeheuer sei.
Ich verlor mein Zuhause, meine Zuversicht und im Grunde genommen einfach jeglichen Zweck. Hier unterbrach ich mich.
Mit einem Ruck stand ich auf, die Gedanken fielen ab, und mein Gehirn bot wieder die friedliche Leere, in welcher der Wald sich spiegelte.
Der Pfad stieg jetzt nur leicht an und bot aus der Höhe immer wieder Ausblicke auf das Dorf Glittet, das tief unten auf der anderen Seite der Schlucht seinen roten Funkmast in die Hohe reckte.
Die Luft vibrierte von der Hitze und begann die Farbe der wilden Erdbeeren von vorhin anzunehmen. Der Pfad bog um einen Felsen.
Meine Augen waren auf den Boden gerichtet, weil kreisrunde Gruppen grüner Pilze meine Aufmerksamkeit erregt hatten.
Als ich die Augen hob, stand er vor mir.
 
Gerhard Falkner: Bruno, S. 78-82 © Berlin Verlag 2008  in der Piper Verlag GmbH, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages