druckkopf

Shelley
Frankenstein

Frankenstein

Zweites Kapitel
 
Ich rief: »Ihr wandernden Geister! Falls ihr wirklich herumwandert und nicht in euren engen Gräbern ruht, dann gestattet mir dieses vergängliche Glück oder entreißt mich als euren Begleiter den Freuden des Lebens«
Als ich diese Worte sprach, erblickte ich plötzlich in einiger Entfernung die Gestalt eines Mannes, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf mich zurannte. Er sprang über die Gletscherspalten, zwischen denen ich mich mit Vorsicht bewegt hatte. Als er näherkam, wirkte sein Körper viel größer als der eines gewöhnlichen Menschen. Ich war beunruhigt. Ein Schleier legte sich vor meine Augen, und ich fühlte mich der Ohnmacht nahe, doch der eisige Bergwind ließ mich schnell die Fassung zurückgewinnen. Ich erkannte die sich nähernde Gestalt (ein furchtbarer und abscheulicher Anblick!) als den Unhold, den ich geschaffen hatte. Ich bebte vor Zorn und Grauen, und ich beschloß, seine Ankunft abzuwarten, um ihm sogleich einen tödlichen Zweikampf zu liefern. Schon war er da: Sein Antlitz sprach von bitterer Qual, vermengt mit Hochmut und Bosheit, während seine schauerliche Häßlichkeit für menschliche Augen beinahe zu schrecklich war. Aber das bemerkte ich kaum. Wut und Haß hatten mir zunächst die Sprache verschlagen, und als ich wieder sprechen konnte, tat ich es nur, um ihn mit Ausdrücken voll wildem Abscheu und Verachtung zu überhäufen.
»Teufel!« schrie ich, »du wagst es, zu mir zu kommen Fürchtest du nicht die rasende Vergeltung meines Armes, der dir deinen elenden Schädel einschlägt? Verschwinde, du dreckiger Wurm! Oder bleib lieber hier, damit ich dich zu Staub zermalme! Oh, wenn ich doch nur durch die Vernichtung deiner abscheulichen Existenz die Opfer wieder ins Leben rufen könnte, die du so teuflisch ermordet hast!«
»Ich habe diese Begrüßung erwartet«, sagte der Dämon. »Alle Menschen hassen das Scheußliche. Wie sehr muß man mich dann hassen, der ich scheußlicher bin als alle lebenden Kreaturen! Sogar du, mein Schöpfer, verabscheust und schmähst mich, dein Geschöpf, mit dem du so fest verbunden bist, daß nur die Auslöschung von einem von uns das Band lösen kann. Du willst mich töten. Wie kannst du es wagen, derart mit dem Leben zu spielen? Erfülle deine Pflicht mir gegenüber und ich werde meine dir und der ganzen Menschheit gegenüber erfüllen. Wenn du auf meine Bedingungen eingehst, werde ich sie und dich in Frieden lassen. Aber wenn du dich weigerst, dann werde ich das Maul des Todes stopfen, bis es vom Blut deiner verbliebe­nen Freunde gesättigt ist.«
»Gräßliches Monster! Du Satan! Die Folterqualen der Hölle sind eine zu milde Buße für deine Verbrechen! Elender Teufel! Du machst mir deine Erschaffung zum Vorwurf; also komm her, damit ich den Funken ersticke, den ich so leichtsinnig spendete.«
Mein Zorn kannte keine Grenzen. Ich stürzte mich auf ihn, getrieben von all den Gefühlen, die ein Wesen dazu bringen kann, einem anderen nach dem Leben zu trachten.
Er wich mir mit Leichtigkeit aus und sagte: »Beruhige dich! Ich bitte dich, mich anzuhören, bevor du deinem Haß freien Lauf läßt und mir den todgeweihten Schädel einschlägst. Habe ich nicht genug gelitten, daß du mein Leid noch steigern willst? Das Leben ist mir teuer, auch wenn es nur eine Anhäufung von Qualen darstellt, und ich werde es verteidigen. Denk daran, daß du mich stärker gemacht hast als dich selbst. Ich bin größer als du, meine Glieder sind beweglicher. Aber du wirst mich nicht in Versuchung führen, mich gegen dich zu wenden. Ich bin dein Geschöpf, und zu meinem natürlichen Herrn und König werde ich sogar sanft und fügsam sein, wenn auch du deine Rolle so spielst, wie du es mir schuldig bist. Oh, Frankenstein, sei nicht allen anderen gegenüber gerecht und tritt nur mich mit Füßen, dem deine Gerechtigkeit und sogar deine Gnade und Zuneigung mehr als jedem anderen zusteht. Denk daran, daß ich dein Geschöpf bin. Ich hätte dein Adam sein können, aber ich bin eher der gefallene Engel, dem du jedes Glück verweigerst und den du grundlos bestrafst. Überall sehe ich Glückseligkeit, von der nur ich unwiderruflich ausgeschlossen bin. Ich war gütig und gut. Nur das Elend ließ mich böse werden. Mach mich glücklich, und ich werde erneut tugendhaft sein.«
»Fort mit dir! Ich höre dir nicht zu. Zwischen uns kann es keine Gemeinschaft geben. Wir sind Feinde. Hinfort, oder laß uns unsre Kraft in einem Kampf auf Leben und Tod erproben.«
»Wie kann ich dich überzeugen? Wird dich mein Flehen nicht dazu bringen, dein Geschöpf, das deine Güte und dein Mitleid beschwört, mit Wohlwollen zu betrachten? Glaube mir, Frankenstein: Ich war gutartig. Mein Herz glühte vor Liebe und Menschlichkeit. Aber bin ich nicht einsam, schrecklich einsam? Du, mein Schöpfer, verab­scheust mich. Welche Hoffnung kann ich da noch bei deinen Mitmenschen hegen, die mir nichts schulden? Sie verachten und hassen mich. Das wüste Bergland und die tristen Gletscher sind meine Zuflucht. Hier bin ich tage­lang gewandert. Die Eishöhlen, die allein ich nicht fürchte, sind mein Heim, das einzige, das mir kein Mensch mißgönnt. Ich preise diesen düsteren Himmel, denn er ist freundlicher zu mir als deine Artgenossen. Wüßten die Milliarden von Menschen über meine Existenz Bescheid, dann würden sie wie du handeln und sich zu meiner Vernichtung wappnen. Soll ich denn nicht diejenigen hassen, die mich verabscheuen? Ich werde meine Feinde nicht lieben. Ich bin unglücklich, und sie sollen mein Elend teilen. Doch es liegt in deiner Macht, mich zu entschädigen und sie von einem Unheil zu bewahren, das nur um deinetwillen ein solches Ausmaß annehmen wird, daß nicht nur du und deine Familie, sondern noch Tausende andere vom Wirbelsturm seines Zorns verschlungen werden. Laß mich dein Mitgefühl ansprechen, und verachte mich nicht. Lausche meiner Geschichte. Wenn du sie gehört hast, dann kannst du mich im Stich lassen oder mich bedauern, ganz wie es deinem Urteil entspricht. Aber hör mir zu: Den Schuldigen, so blutbesudelt sie auch sein mögen, wird nach menschlichem Gesetz gestattet, zu ihrer Verteidigung zu sprechen, bevor sie verurteilt werden. Hör mich an, Frankenstein. Du beschuldigst mich des Mordes, und doch würdest du mit ruhigem Gewissen dein eigenes Geschöpf vernichten. Ein Hoch auf die ewige Gerechtigkeit des Menschen! Aber ich bitte dich nicht, mich zu schonen. Hör mich an, und dann - wenn du kannst, wenn du willst - zerstöre das Werk deiner Hände.«
»Warum erinnerst du mich an Dinge, an die ich mit Schaudern zurückdenke, und deren elender Ursprung und Schöpfer ich war? Verflucht sei der Tag, abscheulicher Teufel, an dem du das Licht der Welt erblicktest! Verflucht obwohl ich mich selbst verfluche - seien diese Hände, die dich formten! Du hast solch Unheil über mich gebracht, daß Worte es nicht beschreiben können. Du hast mir keine Möglichkeit gelassen, darüber nachzusinnen, ob ich dir gegenüber gerecht bin oder nicht. Hinfort! Erlöse mich vom Anblick deiner ekelhaften Gestalt.«
»So werde ich dich erlösen, mein Schöpfer«, sagte er und legte mir seine verhaßten Hände über die Augen, wogegen ich mich heftig wehrte. »So befreie ich dich von einem Anblick, den du verabscheust. Dennoch kannst du mir zuhören und mir dein Mitgefühl schenken. Bei den Tugenden, die einst die meinen waren, verlange ich dies von dir. Höre meine Geschichte. Sie ist lang und absonderlich, und du bist zu empfindlich für einen kalten Ort wie diesen. Komm mit mir zu der Hütte auf dem Berg. Noch steht die Sonne hoch am Himmel. Bevor sie hinter diesen schneebedeckten Gipfeln versinkt, um einer anderen Welt zu scheinen, wirst du meine Geschichte gehört haben. Dann kannst du entscheiden. Es liegt an dir, ob ich die Umgebung der Menschen für immer verlasse und ein harmloses Leben führe oder ob ich zur Geißel deiner Artgenossen werde und zum Ursprung deines eigenen baldigen Untergangs.«
Während er dies sagte, marschierte er über das Eis voran. Ich folgte. Mein Herz wollte bersten, und ich antwortete ihm nicht. Doch beim Weitergehen wog ich die verschiedenen Argumente, die er verwendet hatte, und beschloß, mir zumindest seine Geschichte anzuhören. Zum Teil wurde ich von Neugier getrieben, und Mitleid festigte meinen Entschluß. Bislang hatte ich ihn für den Mörder meines Bruders gehalten, und ich suchte dringend nach einer Bestätigung oder Verneinung dieser Vermutung. Auch erkannte ich zum ersten Mal, welche Pflichten ein Schöpfer gegenüber seinem Geschöpf hat und daß ich ihn glücklich machen sollte, bevor ich seine Bosheit beklagte
 
Mary Shelley Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Übersetzung von Alexander Pechmann. dtv 2009. S. 101-106, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers